Katalogtext zu EMÖ SIMONYI - HEILIGE UND SATYRN, Templom Galéria, Eger, 2011

Vom Stürzen in die Zwischenwelten

Das Bild in einer Kirche ist nicht eine Zierde, das Bild in einer Kirche ist der Einstieg in Geschichte (Historie) und Geschichten (Stories). Wir können uns nicht mehr vorstellen, was das erste Bild in einer Kirche auslöste. Wir wissen bestenfalls, was die letzten farbigen Formen uns vermitteln: den Verlust von Gedanken, Wünschen, Ängsten unserer Vormütter und Vorväter.
Die letzten Farbreste in einer Kirche werden uns zum Menetekel dieses Verlustes und vielleicht zum Beginn einer neuen Sinn-Suche. Diese Gedanken gelten nicht nur für die Bilder, die in den Kontext einer Kirche gehören, sondern sie gelten generell für die Verbindung von Raum und Kunst.
Deshalb beschleicht mich hier nicht der Gedanke, dass wilde, bacchantisch-antike Malerei den Kirchenraum entweihen, sondern eher, dass das Zusammentreffen von aufgelassenem Kirchenraum und der vehement gestischer Malerei von Emö Simonyi nicht zufällig, sondern der Vorsehung geschuldet, aufeinander treffen.
Auf dreizehn Tafeln sieht man vor allem Leiber, die stehen, fallen, liegen. Es sind Leiber von donnernder Wucht, Leiber, die in einer Zeit polierter Hochglanzästhetik nicht in unsere Ästhetik passen, obwohl sie doch von Statur gerecht muskulös und beweglich sind. Show-Effekt und Schau-Effekt vereinen sich zwar aufs Beste, doch sie tummeln sich in Farbräumen, die eher abstoßen als anziehen. Also passt es doch in die Realität des Fressen- und Gefressenwerdens, der wir tagtäglich in den Wirtschafts- und Politikmeldungen begegnen.
Zwischen deutschem Expressionismus und norditalienischer pittura metafisica bewegen sich Kompositionen und Farbspiele – und das ist hier eigentlich ohne Bezug zur aktuellen Politik gemeint. Beim Schreiben aber drängen sich sofort die Bezüge auf und machen den künstlerischen Entwurf zu einem politischen Theater.
Was sind diese dreizehn Gemälde, deren Anordnung man durchaus in Sinne eines Kreuzweges lesen kann? Sind die ein Stationendrama á la Strindberg oder ein Fries im griechischen Sinn oder vielleicht doch nur ein Überblick über zweieinhalb Jahrzehnte künstlerischen Schaffens? Entscheidet man sich für Letzteres, fällt auf, dass eine zwölfjährige Lücke klafft (zwischen 1997 und 2009). Die Themen von 1986-1997 und die von 2009 und 2010 liegen demnach näher zusammen als es eine Übersicht über zweieinhalb Jahrzehnte erwarten läßt. Stationendrama und Fries, die durchaus ineinander übergehen können, ergeben demgegenüber eine solidere Basis für ein Verständnis.
An diesem Punkt dann ist man auf Wissen angewiesen, will man nicht das Hauptgewicht auf den Genuss der Farben und Formen legen. Kunst beschäftigt sich mit Kunst, ist einer der Gedanken im Hintergrund jeder Interpretation, ebenso aber auch das selten ausgesprochene Wissen, dass sich Kunst gleichermaßen mit Biographie, also mit Leben, auseinandersetzt. 1989 standen die Malerin und der Autor vor dem Höllensturz Luca Signorellis im Dom von Orvieto und den zwei Quadratmetern am vierten Pfeiler der Außenfassade mit den qualvollen Gesichtern der Höllenfahrern und den freudigen Fratzen der Teufel eines unbekannten Künstlers der italienischen Gotik. Die Anatomie des menschlichen Körpers und seiner Bewegungsmöglichkeiten wird in beiden Werken als charakteristisch für die Zeit des Dombaus (ca. 1288 – 1310) und als wegweisend für die folgende Entwicklung der Kunst gesehen. Und ohne, dass das Wort Renaissance hier fallen könnte oder gefallen wäre, ist der Geist, der zweihundert Jahre später eine wichtige Epoche prägte, schon hier in Orvieto vertreten: der Rückgriff auf vergangene Formen einer wohl schon als klassisch erlebten Zeit mit Verweisen auf die Ästhetik Hadrians, Konstantins und Trajans.
Emö Simonyi tut gleiches: vor dem Besuch im Dom zu Orvieto malt sie „Schimären“ (1986) und „Feuergötter“ (1985), danach den „Minotaurus“ (1991) und „Laokoon“ (1997) und nach dem Erschrecken über den Tsunami die Bilder „Narrenfloß“1 und 2. Damit verknüpft und verwirrt sich auf eigene Weise die abendländisch klassische Bildung der vorletzten Jahrhundertwende und frühneuzeitliche deutsche Literatur. Sebastian Brants „Narrenschiff“ (1494) ist für die Malerin längst untergegangen, aber in der Erinnerung an Géricaults „Floß der Medusa“ (1819) leben Leichtsinn und Menschenverachtung für sie im „Bild“ weiter. Als Brückenpfeiler steht der junge Max Beckmann noch in der Kunstgeschichte, die die kraftvolle Malerei der Italiener über Rubens in unsere Tage getragen hat. Seine grandiosen Körperszenarien „Der Untergang von Messina“ (1909), „Der Untergang der Titanic“ (1912/13) oder „Die Schlacht“ (1907) und „Sintflut“ (1908), Gegensätze zum weitaus theatralischeren Hans Makart, stehen erratisch in seiner Zeit, aber gern übersehen in seinem Œuvre.
Emö Simonyi hat es gewagt, ihr Künstlerleben abseits des mainstream zu entwickeln. Ihre Referenzthemen und –figuren waren eher das Spielfeld der Kunsthistoriker als der Hype des Publikums. Wenn sich ihre Kunst gern auf Kunst bezieht, was offenkundig ist, so bezieht sie sich doch auch ebenso deutlich auf den genius loci und die eigene Biographie. Aber das hat in der Kunstbetrachtung immer noch zu wenig Stellenwert. Mit Prägungen von Orten und Zeiten gehen eher Literaten um oder, schon deutlich weniger, Komponisten. Bei bildenden Künstlern verstecken sich die Bezüge; nur wenn man sie ahnt, kann man sich auch sehen.
Was etwa geschieht im Gemälde „Minotaurus“ (1991), das einen in einem blass-blauen Farbkreis schwebenden Mann zeigt, der in seiner rechten Hand so etwas wie einen orange-roten Ball (das Knäuel) hält? Der Titel gebende Minotaurus wird kräftig mit Farbe geradezu geköpft, denn erst durch seinen blauen Kopf schließt sich der Kreis um die Figur des Theseus. Ist es eine Kernspinntomographie eines modernen Mannes, die hier von einer malenden Frau vorgenommen wird, die den Kampf zweier männlicher Wesen in eine tranceartige Therapiesitzung zu verlegen scheint, und oben rechts noch auf eine Ahnung einer untergehenden Zivilisation verweist - ein rotes, möglicherweise brennendes Haus? Und wie steht es mit dem so neutral bezeichneten Gemälde „Bad“ (2009), das einen hohen Kleriker in einem historischen Wellness-Pool zeigt, dem sich ein Gespiele zugesellt oder dem er gerade entsteigt. Unter seinem linken Fuß sieht man eine Schlange und das Zertreten der Schlange mit dem Fuß ist unter 1.Mose 3,15 dem Sündenfall und dem Verlust des Paradieses zugeordnet. Vor dem Pool steht eine weibliche Figur, die mit einem gelben Tuch gegürtet ist und zwischen sich und dem Mann einen kräftigen (blauen) Hund hat.

Die Künstlerin selbst sieht die frontal stehende Figur nicht eindeutig als Frau an; der Brustansatz (unterstrichen durch einen dunklen Kreisbogen) unterscheidet für sie nicht Mann und Frau. Gleichwohl ist das Spiel der Bedeutungen mittels feiner Unterschiede eine der großen Freuden beim Betrachten von Kunst seit der Renaissance. Es ist ein intellektuell-sinnliches Vergnügen, das direkt zum privaten Auftraggeber für die Künstler führte. Die kanonische religiöse Deutung wurde durch den Wunsch säkularer Kunstsammler aufgehoben, keine gemalte Wahrheit vor sich zu haben, sondern die Möglichkeit endloser geistiger Spekulation. "Der große Sammler, der seinen sicheren Geschmack beweist...delektiert sich an seinen...Gemälden stets aufs neue und auf immer raffiniertere Weise durch gelehrte Gespräche über die wahre Bedeutung der "einfallsreicheren" Darstellungen. Bei einem "Treffpunkt der Virtuosen" ist das "Kunstwerk" nicht nur Gegenstand kontemplativer Betrachtungen: seinen Sinn zu interpretieren ist wesentlicher Teil des Vergnügens, es zu besitzen."1)
Und da bleibt es eine frische und geistvolle Möglichkeit diese Figur als Eva mit ihren Hinweisen auf eine Artemis mit blauem Hund zu verstehen. Die mediterrane Mythologie gibt dafür zahlreiche Hinweise.

Hier ist Zeit angehalten, vielleicht sogar eingeschmolzen, hier vereinen sich Beckmanns Figuren und de Chiricos wüst gewordene Lebensräume. Und wenn man das Glück hat, die Künstlerin zu ihren Bildern sprechen zu hören, dann vereint sich das Kloster, das den zerschossenen Vater vor Entdeckung und Tod bewahrte, mit der Kirche, die für die Künstlerin als Kind ein guter Spielplatz war oder dem Irrenhaus, das 24 Jahre lang ihr steinerner Nachbar war und ihr die Welt der Ver-Rückten aufschloss.
Hier vereint eine jüdisch fühlende und christlich denkende Künstlerin die Untergangs- und Zukunftsphantasien, die zwischen diesen beiden Religionen eine Uroboros-Kultur gebar. Emö Simonyi trägt die ungemein fruchtbaren Ansätze dieses Glaubensmixes von ihrer Blütezeit zwischen 1880 und 1930 bis in das 21. Jahrhundert, das mit immer monströseren Katastrophen lebt, aber bislang ohne die Tröstungen zukunftsweisender Ausblicke.


Heinz Thiel


1) Salvatore Settis: Giorgones 'Gewitter'. Auftraggeber und verborgenes Sujet eines Bildes in der Renaissance (Wagenbach 1982), S. 172/3


 

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