"Simonyi - Papierskulpturen · Papírszobrok · Paper sculptures · Plastiche in carta",
Kunstverein Rosenheim - Budapest Galerie, 2000

Migrationskunst

Eine spezifische Frage der Kunstgeschichte - die sich gewöhnlich der nationalen Schulenbildung verpflichtet - ist die kunsthistorische Zugehörigkeit jener Künstler zu bestimmen, die nicht in ihrer Heimat schaffen. Schreiben wir hier ungarische Kunstgeschichte oder die Geschichte der Kunst in Ungarn? Ist im ersten Fall jeder ungarische Künstler inbegriffen, unabhängig davon wo er lebt? Sind wir im letzteren Fall nur daran interessiert, was in Ungarn geschaffen wird, von wem auch immer? Selbstverständlich ist es nicht zwingend, bei der Kunstgeschichte in nationalen Kategorien zu denken, denn die Kunst ist universell und der Modernismus international. Dennoch hat das Regionale immer noch Gültigkeit, was auch die Monographien über die aktuellsten Strömungen aufzeigen, einschließlich derer über den Neuen Expressionismus. Dies wird nicht nur durch die verschiedenen regionalen Bezeichnungen für den Stil, sondern auch durch die unterschiedliche Bedeutung bestätigt, die ihm von Autoren (wie z.B. Donald Kuspit oder Irving Sandler in Amerika) zugemessen wird, die am weitesten von der nationalen Anschauung entfernt sind.
In der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts gibt es eine Unzahl von Künstlern, die ihre Heimat in Folge von Revolutionen, Diktaturen, auferlegten Einschränkungen oder einfach wegen ihres peripheren Daseins verlassen mussten. Es ist bekannt wie viele Künstler Ungarn um 1970 verließen. Ihre Wege verlaufen alle verschieden, sie haben keine Verbindung durch die Emigration. László Lakner, Emö Simonyi, Endre Tót leben in Deutschland aber das ist alles was sie gemeinsam haben. Auch zeigen die 70er Jahre einen Migrationszustand unter den Kunstgattungen ("Grenzbereiche"). In dieser allgemeinen Migration sind verschiedene Werktypen entstanden die sich wie Briefe, Pakete oder Ideen transportieren lassen, ohne die Vorsichtsmaßnahmen, die bei traditionellen Kunstobjekten erforderlich sind oder die vor Ort hergestellt werden können. Mit diesen alternativen Kunstobjekten wurde auch ein Protest gegen den Kunsthandel ausgedrückt.

Bei Emö Simonyi ging es zunächst nicht darum. Sie arbeitete gleich nach dem Abschluss der Akademie zuerst als Grafikerin (in der Gruppe "Quintett") und erhielt kurz danach (1968) den Preis "Best Design of the Year" in London, worauf sie eine Karriere als Grafikerin in Deutschland aufbauen konnte. 1988 jedoch wurde sie mit dem Förderpreis der Stadt München für Malerei ausgezeichnet. Seitdem ist sie eine wilde Malerin des Neuen Expressionismus, einem Stil bei dem, wie man sagt, das Zeichnerische von Anfang an eine entscheidende Rolle gespielt hat, und zu dem sich nur wenige Künstlerinnen bekennen. Deshalb wird dieser Stil auch als Kunst von Minderheiten (Regionen, Geschlechter, Gattungen, und Repräsentationstypen wie die Figürlichkeit) bezeichnet, da er überall die persönliche individuelle Erfahrung zur Geltung bringt, und deshalb kann man diesen überall präsenten Stil wiederum als universell bezeichnen (wie z.B. Gerard Xuriguera feststellt).
Wie in den bisher in der Kunst führenden westlicheren Regionen eifersüchtig behauptet wird, ist die deutsche Wilde Malerei schon  in den 70er Jahren, mit der Absicht aufgetreten das deutsche Selbstbewusstsein wieder zu rehabilieren.Wenn dies der einzige Grund gewesen wäre, wie hätten dann zahlreiche ost-mitteleuropäische Künstler diese Kunstrichtung aktiv vertreten können? Handelt es sich hier nicht um die gemeinsame mitteleuropäische Erfahrung des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer, die sich mit einer elementaren Kraft wie aus einer verschlossenen Flasche befreite? Und ist es nicht verständlich, dass anstelle der Kunsterfahrungen in Ungarn, die unter dem "Schutz" der Diktatur in einem Netz von Geheimpolizei und Terroristen erlebt wurden, ungarische Erfahrungen auch in der Kunst des geteilten Deutschlands Gestalt annahmen auf der Suche nach der eignen Identität?
Emö Simonyi, die seit 1971 in Deutschland lebt, übersetzte doppelte Erfahrungen in Bilder, als sie die Malerei zu Beginn der 80er Jahre "entdeckte" und in einer sinnlichen Euphorie ihre Bilder aus der konkreten Gebundenheit heraushob, wie Julia Fabényi schrieb (Katalog "Dialog", Ernst Museum Budapest, 1992). Der mittel-europäische Alptraum, die Schrecken der Verbrechen gegen die Zivilisation, ist durch ihre Werke, die allgemeingültige Todestanz-Visionen sind, in der ungarischen Kunst formuliert worden. Ihre monumentalen, ringenden menschlichen Monster mit verdrehten Körpern, die sich gegenseitig auffressen, sind Boten der alles verschlingenden zivilisatorischen Katastrophe, die wir vielleicht in Ungarn gar nicht wahrgenommen haben, die aber auch von einem anderen ungarischen Künstler, dem in Paris lebenden Tibor Csernus in seinen Bildern thematisiert wurde. Demzufolge sind sie die natürlichsten Kettenglieder in der Verbindung der ungarischen und der internationalen Kunst.
Die Bildgestaltung Emö Simonyis ist sehr persönlich, aber der persönliche Charakter eines Bildes hängt nicht nur vom Verhältnis zwischen dem Wirklichkeitsgehalt und seinem Echo als subjektive Erfahrung ab. Um ein subjektives Bild zu schaffen, muss darin der eigene Charakter zur Geltung kommen (Material, Technik, Mittel). Emö Simonyis Kunst scheint diesen Weg zu verfolgen. Ihre barockhaft reichen, intensiv dynamischen, lebhaften figurativen Gemälde haben sich in Skulpturen verwandelt, deren Körperteile auf übereinandergestellte zusammenfaltbare Pappkartons gemalt sind. Die Natur ihrer Bildhaftigkeit ist Wahrhaftigkeit, Lebendigkeit, aber sie dekonstruiert das figurale Bild, um es zu seinen magischen Wurzeln zurückzuführen. Dies geht mit der Vergegenständlichung einher: die Körperteile erhalten mit den Kartons Raum und Perspektive und fangen mit ihrer eigenwilligen Anatomie ein Eigenleben an. Dadurch werden die ganzen Figuren zu  lebendigen Subjekten: Totems oder Golems.
Während man auch in der Kunst in Ungarn ähnliche Wesen finden kann (die Papierarbeiten von József Gaál oder József Szurcsik), sind die Arbeiten von Emö Simonyi typische Werke der Migration. Wie ein Schausteller kann sie diese überall beliebig aufstellen. Und während sie ihre Schöpfungen aufbaut oder auseinandernimmt, stellt sie auch die Frage der großen Illusionisten: Was ist eigentlich Wirklichkeit und was ist Kunst? Die Antworten ändern sich im Verlauf der Zeit mit der gesammelten Erfahrung. Heute wissen wir, dass die Wirklichkeit aus Teilchen besteht, die ständig bewegte Energiepakete sind. Es gibt keine stabilen Gegenstände, sie sind nur Illusion. Das ist wie bei Simonyis Arbeiten. Sie sind real, aber wenn sie für einige Wochen in einen Ausstellungsraum kommen, erstarren sie, werden zur Illusion, zur Kunst im konventionellen Sinne? Jedenfalls zeigen sie nur einen Zustand, der sich verflüchtigt. Wie die Wirklichkeit.
Auch die Kunstgeschichte ändert sich im Laufe der Zeit. Die Wissenschaft will entsprechend ihrer Eigenart Zustände stabilisieren, aber sie macht auch auf andere Kohäsionskräfte aufmerksam, um ihre Bedeutung zu zeigen und sie in der Erinnerung zu bewahren. Emö Simonyi und die ungarisch-mitteleuropäische Migrationskunst ist ein Faktum in der Kunstgeschichte. Seit mehreren Jahrzehnten befassen wir uns mit ähnlichen Fakten. Es bedarf der Kohäsionskraft unserer Disziplin, damit sich die Tatsachen unserer Kunstgeschichte nicht verflüchtigen.

         Katalin Keserü

(Übersetzung aus dem Ungarischen)

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