Emö Simonyi - Papierskulpturen

Die neuen Papierskulpturen von Emö Simonyi sind Konstrukte aus bemalten, faltbaren Schachteln, auf denen, sobald sie richtig gestapelt sind, Menschenbilder sichtbar werden. Es sind Puzzles großen Formats und geringen Gewichts, leicht montierbar und leicht demontierbar. Ihr Herkunftsland ist das Land der Lagerhallen zwischen den zugigen und staubigen Stapel- und Umschlagplätzen für irgendwas und irgendwo.

Die Schachtel ist Gerät des modernen Nomaden, des unerlöst Rastlosen in und zwischen den Metropolen der Welt.
Die Schachtel ist, wie der Geigenkasten, Symbol für die lebenserhaltende Mobilität inmitten von Unwirtlichkeiten und für deren noch dunklere Kehrseite: die Flucht.

Die Gestalten von Emö Simonyi sind Menschenbilder für Fahrensleute. Sie sind für den Zug um und durch die Welt, auch für die Flucht geschaffen. Rasch verschwinden sie in ihren Faltungen, rasch erstrahlen sie, wieder entfaltet auf kurzer Rast und richtig gestapelt, in ihrer Kraft, in ihren Farben.
Diese Gestalten sind Teil einer Enzyklopädie menschlicher Befindlichkeiten, einer Enzyklopädie über die Zeiten und Kulturen hin, einer Enzyklopädie in Spiralen - offen bis zum Unendlich.

Die Anspielungen auf literarische und bildliche Traditionen sind zahlreich, offen und - eben spielerisch, ohne Enge und Angst, aus dem gleichen Geist wie die Malerei: zwar wohlkalkuliert, souverän über Technik und Mittel verfügend, aber leichthändig, Heftigkeiten, Eruptionen, große Gesten sich leistend, und, wie es scheint, mit Lust weglassend, was nur beschwert, was nur Anpassung wäre an das, was dem Alltagsdenken und dem Alltagserleben als real erscheinen mag.

Kunstwerke sind im Alltagsleben der bürgerlichen Welt Fremde. Sie entbehren, wie die Natur, der scharf erfassbaren Eindeutigkeit und einer, durch einfaches Analogisieren einordbaren Ähnlichkeit.
Kunstwerke eignen sich nicht zu Lehrstücken, mangels Schärfe nicht als Instrumente der Indoktrinierung. Sie bewirken keine Revolution der Verhältnisse.
In der Wahrnehmung deren Fremdseins, deren Andersseins, im Aushalten dieser Wahrnehmung können die Wahrnehmenden aber ihres eigenen Andersseins gewahr werden, ihr eigenes Anderssein zulassen und bereit werden, sich dem Anderssein anderer zu öffnen.
Das Postulat, nicht nur nach Rechten und Pflichten Gleicher unter Gleichen zu sein, verliert seine Botschaft. Stattdessen wird der Wahrnehmende im Gewahrwerden des Anderen sich seiner selbst gewahr.

Die bürgerliche Welt hat in den letzten Jahrzehnten die Herausforderung, in Kunstwerken etwas ihrem Wesen Fremden zu begegnen, mit Begeisterung angenommen. Die Erfolge der großen Ausstellungen sind Zeichen dafür.
Die Bereitschaft, den Andern, den Fremden Einlass, Zuflucht, Position und Aufnahme in der Gemeinschaft, in der Öffentlichkeit der jeweiligen Gesellschaft zu gewähren, ist in ein stetiges Wachstum geraten, das auch alle Erdbeben und Schreckenstaten nicht aufhalten werden.

Emö Simonyi wird keinen Anlass haben, ihre Enzyklopädie der Anderen, eine Enzyklopädie der unendlichen Vielfalt menschlicher Befindlichkeit, menschlicher Seligkeit und menschlichen Leidens, der Mauer des Klagens entlang einzustellen. Noch lange nicht. 

       Peter Oehme
 

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