"Simonyi - Papierskulpturen · Papírszobrok · Paper sculptures · Plastiche in carta",
Kunstverein Rosenheim - Budapest Galerie, 2000


Türmungen, faltbar, bemalt

Es ist ein Glücksfall für ihn selbst und sein Publikum, wenn ein Künstler, der Jahrzehnte sein Werk in dem von ihm betretenen Feld durch Nuancierungen und Variationen entwickelt hat, der von Gremien durch Preise wie von Sammlern und Museen durch Ankäufe geehrt, zu internationalen Ausstellungen gebeten und von der Kritik, gelegentlich auch von Kollegen in seiner Arbeit gewürdigt wurde, schließlich selbst als Lehrer zur Verfestigung seiner Sicht auf die Welt gelangt ist, ein neues Konzept der Gestaltung finden und auch entwickeln kann.
Bereichernd und beglückend, manchmal epochal ist es, wenn dabei große, grundsätzliche Themen der Gestaltung zusammengeführt, in Spannung gesetzt und in einem Raum persönlicher Vision, der weit genug ist, aufgehoben sind. Beispiele solchen Gelingens sind in letzter Zeit die große, klare, zugleich geheimnisvolle Installation "The last judgement" von Anthony Caro, die künftig in Schwäbisch Hall stehen wird, und die Stofffiguren von Louise Bourgeois.

Emö Simonyi hat in ihren neuesten Arbeiten, die Gegenstand dieser Ausstellung sind, das Thema "ready-made" mit faltbaren Kartons aufgegriffen. Diese Faltkartons stammen aus industrieller Fertigung und haben normierte, gleichwohl unterschiedliche Größen. Sie gehören zum Alltagsleben und haben als Feld praktischer Anwendbarkeit wie auch assoziativer Bedeutung: Transport, Mobilität, Umzug, Flucht. Diese Kartons sind leer, enthalten nur Luft in Kuben, die sie umschliessen, jedoch nichts Greifbares oder sonst Wahrnehm- oder Nutzbares, keine Geheimnisse, deren Verbergung sie dienten.
Emö Simonyi monumentalisiert diese Faltkartons nicht als einzelne oder durch  Reihung, sondern in Hypertaxen durch Stapelung. Darin ist die Herkunft potentieller Inhalte aus reproduktiven Prozessen und  deren Warencharakter ebenso assoziiert wie die vertikale Konstitution urbaner Strukturen des Lebens und Zusammenlebens.
Die Kartons gewinnen in dieser Stapelung, in der jeweiligen Kombinatorik der kantigen Kuben als elementare Teile, eine den Einzelteilen übergeordnete, wahrnehmbare figurale Eigenständigkeit mit eigener Tektonik - wie die Früchte in Arcimboldis Menschenbildern.

Das Bemalen hohler Körper von außen,  immobiler und mobiler Körper, von Häusern, Autos, Schiffen und Flugzeugen, auch des menschlichen Körpers, des nachgebildeten wie des lebendigen, gehört samt tatooing und burning zu den beliebtesten und verbreitesten Aktivitäten menschlicher Kommunikation mit der Folge, dass beinahe alle Kulturen und Subkulturen in diesem Feld eine vielfältige, die jeweilige soziale Wirklichkeit prägende Semantik entwickelt haben.
Neben der außerordentlichen Bedeutung der Körperbemalung im gesamten Bereich der Warenprofile, des Marketing und sonstiger kommerzieller Identitätsbildungen haben Körperbemalungen in der modernen Industriegesellschaft als Graffiti die Funktion, die wichtigste Methode subkulturellen Protestes zu sein: die Schlösser, Werkzeuge und Spielzeuge der Herrschenden werden aus den gewollten, den jeweiligen Interessen zugeordneten semantischen Feldern mittels Verfremdung und Umdeutung durch Bemalung entrückt.
 Hochgeschwindigkeitszüge werden in freundliche Drachen verwandelt und in Unterführungen sind Sagen von  Helden erzählt, deren Integrierbarkeit in die jeweilige Gesellschaft nicht sicher scheint.

In ihren hier ausgestellten, neuesten Arbeiten hat Emö Simonyi das Thema der Körperbemalung mit der Methodik der Graffiti entwickelt. Sie lässt auf eignen, selbst gefertigten Figuren, auf  Türmungen aus stabilen, aber faltbaren Schachteln, ready-mades, die als Kuben eine klare stereometrische und als Repräsentanten des Warenmarktes der modernen Industriegesellschaft zugleich eine klare soziale Definition haben, durch Bemalung eine Gegenwelt in Gestalt farbgesättigter Riesen erscheinen, die in ihrem Habitus der Konstitution der Gesellschaft, der die Faltkartons entstammen, sich ebensowenig fügen wie der Stereometrie von Kuben und deren Rechtwinkligkeit. Die Spannung dieser beiden Welten ist nicht zuletzt an den Kanten der Kartons gegenwärtig und ausgetragen.
In ihrer Methodik des Alltagsbezugs wie der Verfremdung, aber auch in ihrer Dichte sind diese Figuren Verwandte der Figuren Luginbühls und Tinguelys, die Riesen aber, die als caracters zwischen arte povera und subkultureller Gestik erscheinen, Verwandte gerader Linie der Figuren, die  Emö Simonyi  für ebene Bildträger konzipiert und in verschiedenen Formaten und Techniken realisiert hat.

Es ist uns, den Sammlern und Besuchern von Ausstellungen und Museen, allen Bildersüchtigen zu wünschen, dass durch die Kraft, die Lust und den Geist der kühn und frei, gleichwohl mit Disziplin Spielenden dieses Riesengeschlecht vermehrt wird. Es ist vorstellbar, dass es eines Tages, irgendwo, zwischen den Sträuchern und Bäumen eines Parks oder auf einem Stadtplatz erscheint, den Passanten, mitten in deren öffentlichem Raum, voller Farbigkeit und stabiler, aber verletzlicher Mächtigkeit als eine freundliche Ansammlung überall Fremder begegnet, die zum Bleiben, aber auch zur eigenen Dekonstruktion bereit ist.Die Figuren werden die überraschten Betrachter erfreuen, aber auch belehren über die Maßstäbe und die Kraft des eigenen Daseins.

         Peter Oehme

 

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