"Simonyi - Papierskulpturen · Papírszobrok · Paper sculptures · Plastiche in carta",
Katalog, Kunstverein Rosenheim - Budapest Galerie, 2000


Spontaneität und Kalkül. Realismus in den Arbeiten Emö Simonyis

Ich beschränke mich daher auf die schon mehrfach gemachte, aber nie genug wiederholte Feststellung, dass der Realismus oder realistische Wert eines Werkes nicht im geringsten von der Qualität, die das Bild als Nachahmung oder Wiedergabe eines Objektes besitzt, abhängig gemacht werden kann.
                                                                 Fernand Léger

Tatsächlich beeindruckt nicht zuerst der realistische Wert der Figuren Emö Simonyis, sondern die Dimension der überlebensgroßen Kartonskulpturen, die mehr als drei Meter hoch sein können. Unsere Sehgewohnheiten, die längst mit der neoexpressionistischen oder gestischen Malweise vertraut sind, erkennen trotz der abstrahierenden Wiedergabe schnell menschliche Figuren, deren dynamische Monumentalität fesselt. Die sogenannte heftige Malerei der Neuen Wilden hat sich hier von der Malfläche befreit und ist in die plastische Dimension gegangen. Auf Verpackungsschachteln, vorgegebenen kubischen Formen, entwickelt sich eine evokative, stark farbige Figurenmalerei, Ausdruckskunst, die auf die Farb- und Formensprache primitivistischer Malerei zurückgreift.
Eindringliche Gesten und Haltungen, eine ausgeprägte Gebärdensprache der großen Einzelfiguren, machen diese zu Allegorien. Ein am Boden kniender Schreiender mit in die Höhe gereckten Armen ist ebensowenig als individuelle Person zu verstehen wie die große Schreitende mit nach vorne gestelltem Bein oder die Zeigenden mit ausgestreckten Armen. Sie verkörpern menschliche Extrem- oder Grundsituationen auf markante, gültige Weise.Trotz ihrer kühn modellierten Formen fällt der erste Blick des Betrachters auf eine Gesamtform, deren Ursprung weit zurück führt in die Kunstgeschichte, zu griechischen Kuroi, zu ägyptischen Stand- und Sitzfiguren und zu den handlicheren prähistorischen Idolen.

Beschränkt man sich bei der Betrachtung auf ein Detail, das Gesicht nämlich, lässt sich daran eine Verbindung zur afrikanischen Plastik und ihrer Wiederaufnahme durch die Kunst der Klassischen Moderne feststellen. Die Vielansichtigkeit und die dadurch notwendige Verschiebung der Form ist eine der formalen Grundlagen der Künstlerin Emö Simonyi.
Das über die Ecke einer Schachtel gemalte Gesicht, deren Spitze die Nase ausbildet, folgt der vorgegebenen Form des Malgrundes und nähert sich damit der realen Gesichtsform an. Wo das Gesicht durch zwei oder drei gestaffelte und zueinander verschobene  Kartons entsteht, wird deutlich, wo die Vorbilder Emö Simonyis zu suchen sind. Anstatt eine Form, wie die Nase etwa, nur vorzutäuschen, stellt die Künstlerin ihre Lage im Raum von mehreren Seiten dar. Das Prinzip der geometrischen Zeichnung, das dieser Darstellung zugrunde liegt, ist auch das Prinzip des Kubismus. Dieser allerdings beschränkt sich vorwiegend auf die Malfläche, abgesehen etwa von mehreren frühen Skizzen Picassos, der dort ab 1912 imaginäre Skulpturen aus Holz und Karton notiert. Genaugenommen kann der Kubismus auf die Skulptur verzichten, weil er Räumlichkeit auf der Fläche zeigt, doch schon sehr bald wurde die doch recht akademische Form des Kubismus, die intellektuelle Erarbeitung der räumlichen Darstellung abgelöst; für Maler wie Picasso bedeutete er nur eine vorübergehende Phase innerhalb seines Gesamtwerkes.Auch wenn viele Indizien für den Rückgriff der Künstlerin auf den Kubismus sprechen, stellt sie doch gewissermaßen den Kubismus vom Kopf auf die Füße.Zahlreiche Details, wie die Münder, deren Lippen aus Licht- und Schattenpartien bestehen und auf formale Kürzel reduziert sind, oder aber die Formkontinua der runden Brüste und Bäuche, der Kniescheiben oder Vulven evozieren noch die Formensprache afrikanischer Vorbilder wie des Kubismus, doch scheint in den Arbeiten Emö Simonyis ein Aspekt zu dominieren, der beinahe das Gegenstück des Kubismus ist, nämlich das expressive Moment, das die Form als gesteigerten Ausdruck versteht und weniger als intellektuell erarbeiteten Bestandteil. Was in den 20er Jahren noch erfunden und erprobt werden musste, steht der Künstlerin heute als selbstverständliches Repertoire zur Verfügung, von dem sie abweichen, zu dem sie aber immer wieder zurückkehren kann. Ihre Rückgriffe reichen dann bis zur thematischen Anlehnung, Mutter mit Kind oder Sitzende oder ganz offensichtlich der Minotaurus sind Motive, die Picasso in seinem gesamten Werk immer wieder verarbeitet, man könnte sie als Zitate der Künstlerin verstehen.

Emö Simonyis Skulpturen demonstrieren das Begreifen der Formen im Kunstwerk und bewegen sich in einem Gebiet zwischen Raum und Fläche, zwischen den Kuben ihrer Skulpturen und deren doch flächiger Seiten, zwischen geometrischer Grundform und figürlicher Darstellung.Durch die Beschränkung auf den vorgegebenen Kubus , in den die Figur eingespannt ist, wird der Betrachter auf das Funktionieren des Sehens aufmerksam gemacht: Ohne den Würfel nämlich gäbe es für uns kein Gefühl der Dreidimensionalität der Körper. Die gesamte illusionistische Malerei lässt sich auf diese Tatsache zurückführen.
Die Verwendung von Verpackungskartons als Malgrund ergab sich für die Künstlerin aus der Beschränkung, welche die Fläche für sie bedeutet, und die durch die Kartons überschritten werden kann. Wo Emö Simonyi über die Kante hinausmalt, entsteht endlose Malerei, die sich nicht auf die inhaltliche Darstellung reduzieren lässt, sondern die figürlichen Skulpturen in gewissem Sinne zur reinen Malerei zurückführt, mindestens aber zur Gleichberechtigung von Farbe und Form. Gleichzeitig mit der realistischen Abbildung, welche durch die Form der Kartons unterstützt wird, die die Figuren in einzelne Körperabschnitte untergliedern, entsteht eine intensive Malerei, die der Farbe zu ihrem Recht verhilft.
Die Nacktheit der meist eng eingespannten Figuren wird als deformierte gezeigt, fallende Brüste, gelängte oder aufgeblähte Körperteile, von einer Norm abweichende Hände und Füße sind das Ergebnis. Dem stehen realistische Details gegenüber, Brustwarzen, Augen, geöffnete Münder, deren Zahnreihen strahlen. Beides zusammen jedoch führt zu einer größeren Eindringlichkeit.
Das gleiche gilt für die Farben. Die Lokalfarbe der Körperteile wird oft nur in geringen Mengen verwendet, an ihre Stelle tritt die ungewohnt bunte Farbigkeit. Fleischfarbe mischt sich mit Weiß, Grün, Rot, Blau, Gelb und Schwarz. Während auf der einen Seite die Anatomie durch Rundungen und biomorphe Ausbuchtungen unterstützt wird, verzichtet die Malerei gelegentlich auf die Modellierung der Formen durch Hell-Dunkel und setzt statt dessen eine Zeichnung auf die Körperoberfläche, die beinahe karikaturenhaft Dreidimensionalität erzeugt. Groteske Verzerrung und schrille Farbigkeit treffen aufeinander, und zwar in souveräner Weise. Ein sicherer Duktus der Gestik, eine rasche Handschrift, die sich als Richtungswechsel des Pinselstrichs zeigt, unterbrechen alles, was man vielleicht als Systematik oder berechenbare Konstruktion bezeichnen möchte.Das Ergebnis sind skurrile Figuren - ironische Details, wie die alles dominierende Sonnenbrille der stillenden Mutter, der knappe Bikini einer wohlbeleibten Frau oder die angespannte Haltung des Boxerpaares unterstreichen dies - aber auch eindringliche, zeichenhafte Bewegungsfiguren mit großen Gesten, weiten Augen und aufgerissenen Mündern. Sie sind die Resultate aus Spontaneität und Kalkül, und sie sind realistisch, nicht obwohl, sondern gerade weil sie die naturgetreue Darstellung überschreiten.

         Hanna Stegmayer

 

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